*Ausschnitt aus der Siegener Zeitung*
Das Siegener Angebot, Flüchtlingen bei ihrer Traumabewältigung zu helfen, kann nicht mehr finanziert werden. Verbände rechnen mit flächendeckenden Problemen im Sozialbereich. Warum Klienten mit schlimmen Erlebnissen jetzt Gefahr laufen, in ein tiefes Loch zu fallen
TRAUMAAMBULANZ: DEMNÄCHST WIRD DAS ANGEBOT IN SIEGEN-WITTGENSTEIN NOCH KNAPPER.
Von Raimund Hellwig
SIEGEN. Kinder, die im Unterricht nicht sprechen oder auffällig werden, die hyperaktiv oder unruhig sind; Erwachsene, die bei einfachen Reizen in Panik oder Schockstarre verfallen – seelische Verletztungen, im Fachgebrauch Traumata genannt, sind etwas, was jedem Menschen irgendwann widerfahren kann. „Sie gehören zum Leben dazu, der Mensch kann damit umgehen“, erläutert Martina Mura. Dennoch müssen gerade Flüchtlinge besonders beraten werden. Das einzige Angebot dieser Art in der Region muss jetzt schließen. Das kann ernsthafte Konsequenzen haben.
Die Traumatherapeutin Martina Mura gehört zum Team des Psychosozialen Zentrums, einer Einrichtung, die seit Jahren gemeinsam von der Arbeiterwohlfahrt und dem Verein für Soziale Arbeit und Kultur getragen wird. Ihre Klientel: Menschen, die in ihrer Heimat oder auf der Flucht durch Folter oder andere traumatische Erfahrungen verletzt wurden.
Die traumatischen Erfahrungen vieler Flüchtlinge haben ein deutsches Gegenstück: Hunderttausende von Flüchtlingen aus den Ostgebieten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch die verschiedensten Fluchterlebnisse traumatisiert. Viele dieser Erfahrungen wurden verschwiegen und verdrängt und treten oft erst am Ende des Lebens wieder hervor.
Ebenso tragen viele heute alte Menschen die Erfahrungen der Bombenangriffe noch mit sich herum: Gerade in Pflegeheimen weiß man um die Reaktionen, die Sirenenprobealarme bei älteren, oft dementen Menschen auslösen können.
Der Unterschied zu heute: In der Bundesrepublik gab es keine Traumabehandlung. Viele Zeitzeugen versuchten, ihre Erfahrungen „wegzu kapseln“ oder oft bei ehemaligen Soldaten zu beobachten – sich bei Stammtischen oder Treffen im Freundeskreis selbst zu helfen.
Das ist bei Flüchtlingen schwieriger. Oft sind sie in ihren Unterkünften isoliert, dürfen nicht arbeiten und können so ihrem Problem schlecht ausweichen.
Die typischen Folgen von solchen verletzenden Erlebnissen schildert Martina Mura: „Sehr viele werden psychisch krank, viele depressiv oder suchtkrank.“ Manche entwickeln angesichts der Unsicherheit ihrer Lebensumstände Persönlichkeitsstörungen oder auch extrem starken Körperschmerz.
Zwölf Klienten hat jeder Therapeut, insgesamt kommen derzeit 50 Menschen ins Psychosoziale Zentrum an der Sandstraße. Hinzu kommen Menschen, die einfach nur gecoacht werden. Angeboten werden auch Beratungszeiten für Schulen und Kindergärten, denn gerade hier gibt es immer wieder Probleme mit Kindern und Jugendlichen, die eigentlich therapiert werden müssten. Das schaffen Lehrer in der Regel nicht, weil sie weder dafür ausgebildet sind, noch die Zeit dafür haben.
Die Zeit ist jetzt auch für das Psychosoziale Zentrum vorbei. Finanziert wird das Angebot derzeit durch das Land NRW. „Das ist aber nicht auskömmlich“, meint VAKS-Geschäftsführer Michael Groß.
Zugleich stiegen die Löhne durch die aktuellen Tarifsteigerungen so stark an, dass die Lücke nicht mehr finanzierbar war. Beim Kreis fragte man einen Zuschuss an, um die Lücke zu schließen. Das lehnte die Mehrheit im Kreistag jedoch ab.
„Jetzt müssen wir die Reißleine ziehen“, sagt Michael Groß, Geschäftsführer des VAKS Siegen. „Das ist das Dilemma der sozialen Arbeit – man muss eigentlich immer noch Geld mitbringen.“
Das Problem ist nicht allein das von der Arbeiterwohlfahrt oder VAKS: Die lückenhafte Finanzierung von sozialen Projekten zieht sich durch die gesamte soziale Landschaft, zumal auch die nicht refinanzierten Lohnerhöhungen so hoch sind wie noch nie. Die Konsequenz für die Traumaberatung: Zum 30. Juni ist Schluss, mit den Mitarbeitern wurde bereits gesprochen. „Und wenn diese Beratung weg ist, dann kann sie auch nicht wieder aufgebaut werden“, glaubt AWO-Abteilungsleiter Matthias Heß.
Bereits heute werden keine neuen Klienten mehr angenommen. Die jetzigen Klienten werden je nach Status auch niemanden finden, bei dem die Behandlting fortgesetzt wird. Teils, weil sie in ihrem aktuellen Status nur Anspruch auf ärztliche Behandlung in einem akuten Notfall haben, teils, weil die Psychotherapeuten lange Wartelisten haben – und weil Psychotherapeuten oft große Probleme haben, Klienten zu behandeln, mit denen sie nur über einen Dolmetscher kommunizieren können.
Das Ergebnis ist einfach zu beschreiben: „Die Betroffenen fallen dann in ein tiefes Loch.“